“Was muss ich als Teammitglied mitbringen, um Remote zu arbeiten, welche Skills brauche ich?” Diese Frage wurde mir kürzlich von einem Geschäftsfreund gestellt. Eine sehr richtige und spannende Frage, wie ich finde.
Einordnung
Vorab möchte ich feststellen, dass es sehr wichtig ist, zwischen den unterschiedlichen Graden der Remote Arbeit zu unterscheiden:
- Handelt es sich um die gelegentliche Arbeit aus dem Home-Office?
- Oder ist man ein Teammitglied, das in einer anderen Stadt angesiedelt ist, als das Office? Also sitzen die meisten Leute zusammen im Büro und nur man selbst nicht?
- Oder ist es eine Firma, die ausschließlich Remote Mitarbeitende hat, also selbst gar kein Office besitzt?
- Und als Bonus Frage: gibt es auch die Möglichkeit in einem Co-Working-Space zu arbeiten?
Viel zu oft wird nämlich aus meiner Sicht die Remote-Arbeit mit der Arbeit von zu Hause gleich gesetzt. Es mag Leute geben, für die es der Idealzustand ist, in den eigenen vier Wänden zu arbeiten. Aber für viele ist es auch wichtig, Arbeit und Privatleben räumlich zu trennen – und für diese kann es deutlich sinnvoller sein, in einem Co-Working-Space zu arbeiten (dies kann auch ein angemietetes einzelnes Büro bei einer Firma in der Nachbarschaft sein).
Charaktereigenschaften und Fähigkeiten von Remote-Mitarbeitenden
Kommen wir nun aber zu den persönlichen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten.
ℹ️ In meinen weiteren Ausführungen werde ich mich auf die echte Remote-Arbeit fokussieren, also davon ausgehen, dass es kein Office gibt und die Unternehmenskultur im virtuellen Raum, also zum Beispiel in Slack, Notion, und anderen Tools stattfindet.
Die erfolgreiche Arbeit in einem Unternehmen, in einem Team, ist von der sozialen Verbundenheit und dem gemeinsamen Streben, etwas zu erreichen, geprägt. In einem Büro entsteht diese soziale Verbundenheit ganz automatisch dadurch, dass man sich täglich sieht und miteinander interagiert. Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Bedürfnis nach dieser empfundenen sozialen Verbundenheit aber ohne diese kann ein Team nicht sinnvoll durch eine Krise oder einen Konflikt navigieren. Es braucht gegenseitiges Vertrauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Menschen in meinem Alter erinnern sich vielleicht noch an Brieffreundschaft, jüngere eher an Gaming-Bekanntschaften. Auch hier entsteht ein Gefühl von Verbundenheit und sozialer Nähe – ohne dass man sich ständig persönlich sieht. Genau das gleiche muss eine Remote-Firma und muss jedes einzelne Teammitglied erreichen (wollen).
1️⃣ Die Fähigkeit, eine Beziehung über Distanz aufzubauen und zu pflegen
Dementsprechend ist also die erste wesentliche Charaktereigenschaft oder Kompetenz die Fähigkeit, eine Beziehung über Distanz aufzubauen und zu pflegen.
Meine Erfahrung ist, dass das Unternehmen, bzw. das Leadership alle Teammitglieder immer wieder ermutigen muss, Arbeitszeit hierfür aufzubringen. Und Founder bzw. der Leadership muss sich selbst die Zeit nehmen und als Bespiel voraus gehen. Ich habe immer wieder betont, dass ich mir auch schöneres Vorstellen kann, als Scribbl.io zu spielen aber dass dieses gemeinsame Albernsein essentiell für den Erfolg unseres Startups ist. Daneben hilft es, sinnvolle Vorgaben zu machen: z.B. dass jedes Teammitglied 1-2 Stunden pro Woche organisierte Zeit aufbringen sollte, um Smalltalks und ähnliches mit anderen Teammitgliedern und auch quer durch die Organisation zu machen.
2️⃣ Selbstorganisation und -motivation
Für remote arbeitende Leute ist es extrem wichtig, ein hohes Maß an Selbstorganisation und -motivation mitzubringen. Man muss in der Lage sein, sich für die Arbeit zu begeistern und ohne Druck “von oben” arbeiten zu wollen. Auf der anderen Seite muss man aber auch in der Lage sein, ein sinnvolles Maß an Arbeitszeit zu finden sowie eine gute und gesunde Balance zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Gerade wenn man von Zuhause arbeitet fällt es vielen nicht leicht, Feierabend zu machen. Feierabend auch in dem Sinne, dass man die Arbeit wirklich ausblendet und nicht doch noch einmal nachguckt, ob es etwas Neues gibt.
Natürlich kann und muss das Unternehmen und das Leadership auch hier Hilfestellungen leisten. Aber aufgrund der Distanz sind die Möglichkeiten deutlich eingeschränkter als wenn man gemeinsam in einem Büro arbeitet.
Ein sehr verwandtes Thema ist die “Non-Parental Culture”
Hierbei geht es darum, Verantwortung für seine Arbeitsumgebung und sein Arbeitsumfeld zu übernehmen. Man muss den ultimativen Willen aufbringen, Probleme zu lösen und nicht darüber zu lamentieren. Wenn man diese Eigenschaft nicht mitbringt, kann die “isolierte” Arbeit aus dem Home-Office oder Co-Working-Space auch zur Zeitbombe werden.
Das Unternehmen muss auf der anderen Seite natürlich auch die mitarbeitenden von Anfang an dazu befähigen und ermutigen. Bei uns bekam zum Beispiel jedes Teammitglied schon vor dem ersten Arbeitstag eine virtuelle Kreditkarte, über die man sein Arbeitsgerät beschafft hat. Und es gab eine klare Rollenbeschreibung aus der neben dem Verantwortungsbereich auch die Entscheidungskompetenzen hervorgingen.
3️⃣ Sehr gute schriftliche Kommunikationsskills
Einer der wichtigsten Punkte ist aus meiner Sicht sind sehr gute schriftliche Kommunikationsskills. Eine verteilte Organisation profitiert sehr stark davon, asynchron zu arbeiten. Also nicht eine Video-Konferenz für jedes Thema anzusetzen sondern erstmal versuchen, möglichst viele Themen schriftlich zu erfassen, zu diskutieren und zu lösen.
Gemeinsame Termine zu finden ist ein Engpass in vielen Unternehmen und der tägliche Wahnsinn an Meetings verhindert in vielen Unternehmen die Fokusarbeit. Daher: erstmal asynchron starten und das erfordert, dass es nicht als lästig empfunden wird, einen gut zusammengefassten, klaren Text zu formulieren.
ℹ️ Aus meiner Sicht sollte man, wenn man in einem Remote-Team arbeiten möchte, eher die Tendenz zur Über-Kommunikation innehaben.
Warum? Man muss sich bewusst sein, dass remote arbeitende Teammitglieder im Standard nicht sichtbar sind: Im Büro ist man schon dadurch sichtbar, dass man anwesend ist. Andere können sehen, dass man da ist, sie sehen auch, wie man sich bewegt, welche Mimik und Gestik man heute hat und so weiter. Das alles ist verborgen, wenn man nicht am gleichen Ort arbeitet.
Wenn man remote arbeitet, muss man als Unternehmen sinnvolle Wege schaffen, das Mitarbeitende diese Informationen austauschen können und genauso müssen die Teammitglieder auch gewillt sein, diese Informationen zu teilen.
Auch in Bezug auf die Arbeitsergebnisse sollten remote arbeitende Teammitglieder eher die Tendenz haben, zu viel zu kommunizieren. Es ist einfacher möglich, auf der Empfänger-Seite zu filtern – also die relevanten Informationen für sich herauszufinden – als auf der Sender-Seite immer wieder Informationen anzufragen.
Hier noch einmal eine Übersicht, um welche Art von Informationen es hier geht:
- Arbeitsergebnisse
- Misserfolge/Learnings
- Ereignisse aus dem Privatleben
- Standups – Wie ist die Stimmung, gibt es Blocker, woran arbeite ich gerade…
- und vieles mehr. Natürlich immer in den richtigen Channel gepostet und mit ausreichend Kontext, so dass andere die Informationen einordnen können.
Ein remote arbeitendes Team muss Informationen analog zu Facebook aussenden. Nicht der Sender entscheidet, welche Information sinnvoll sind, sondern der Empfänger.
ℹ️ Das bedeutet nicht, dass man wahllos Information produziert und publiziert. Im Gegenteil: ganz wichtig ist, dass man in der Lage ist, sehr explizit zu kommunizieren (also nicht um den Punkt herum schreiben, sondern klar sagt, worum es geht und worauf es ankommt bzw. welche Aktion man erwartet) und möglichst viel Kontext geben, so dass der Empfänger ohne große Recherche in der Lage ist, die Informationen zu verarbeiten.
Bei Frontastic haben wir sogar einen der fünf Werte diesem Thema gewidmet: transparency first.
Wer ein Remote Unternehmen gründet oder vielleicht auch den Impulsen der Pandemie gefolgt ist und nun ein hybrides Modell fährt, muss sich bewusst sein, dass damit eine wesentliche Veränderung einhergeht: Intransparenz im weitesten Sinne: Im Büro kann ich schnell erkennen, in welcher Stimmungslage ein anderes Teammitglied ist. Daran leite ich ab, ob im Moment der richtige Zeitpunkt für ein wichtiges Gespräch ist, oder ob ich die Person gerade um Hilfe bitten kann.
Auch lernen neue Teammitglieder sehr schnell, wie im Team kommuniziert wird, weil man im Büro sehr viel unterschwellig mitbekommt.
In einer Remote-Organisation muss ich hingegen dafür sorgen, dass zum Beispiel in Slack oder Teams möglichst alles in öffentlichen Channel kommuniziert wird. Nur so haben andere Leute die Chance, diese Informationen “zu erhaschen”. Das bedeutet nicht, dass man jedem Gespräch folgt – das macht man im Büro ja (hoffentlich 😂 ) auch nicht. Aber man sollte dem Zufall eine Möglichkeit geben.
4️⃣ Bereitschaft für intensive, persönliche Treffen
Zu guter Letzt fällt mir noch ein ganz anders gearteter Punkt ein: Der Wille und die Bereitschaft, ein bis zweimal pro Jahr zu einem Retreat zu reisen und dort eine sehr intensive, persönliche Zeit mit anderen Mitgliedern des Unternehmens zu verbringen. Auch das ist leider keine Selbstverständlichkeit und sollte unbedingt vorab geklärt werden.
Aus Arbeitgeber-/HR-Sicht
Aus Arbeitgeber- bzw. HR-Sicht stellt sich natürlich die Frage, wie man diese Skills im Bewerbungsprozess abfragen kann.
Was aus meiner Erfahrung ganz gut funktioniert, ist den Prozess zumindest in einem Teil auf schriftliche Kommunikation umzustellen. Wir hatten einen teilautomatisierten Fragen-Ping-Pong durch den man eine ganz gute Idee davon bekam, ob der Bewerber/die Bewerberin in der Lage war, auf diesem Weg eine erste Beziehung aufzubauen. Wir hatten auch Experimente, Kandidaten und Kandidatinnen in einen dedizierten Slack-Space einzuladen (optional) und hierüber eine Möglichkeit anzubieten, in eine “leichtgewichtige” Kommunikation einzusteigen.
Auf diese Weise lässt sich aus meiner Sicht ganz gut erkennen, wie gut die jeweiligen Skills in der schriftlichen Kommunikation sind und wie gut die Personen in der Lage sind, auf diesem Wege auch Beziehungen aufzubauen.
Punkt 2) die Selbstorganisation und -motivation hingegen lassen sich auf klassischen Wege genauso gut ermitteln wie Punk 4) die Bereitschaft für ein Retreat für eine Woche an einen Ort zu Reisen und durch relativ intensive Zeit mit den Teammitgliedern zu verbringen.
Zu guter Letzt noch zwei Tipps, die wahrscheinlich viele Recruiting-Teams ohnehin schon umsetzen:
- Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, unsere Werte bereits in die erste Kommunikation einfließen zu lassen und immer wieder darauf zu referenzieren. Manche Werte, wie z.B. “Transparency first” oder auf “We’re in this together” sind bei genauerer Betrachtung nicht passend für jede Person. Dass es, um bei letzteren Beispiel zu bleiben, wichtiger ist, Dinge zu kommunizieren bzw. zu verschriftlichen als neue Ergebnisse zu produzieren, erzeugt bei einigen Missmut. Aber ein Höchstmaß an Arbeitsautonomie verlangt eine sehr gute und sehr gut strukturierte interne Dokumentation.
- Wir haben die einzelnen Teams ermutigt, sehr konkrete Beispiele aus ihren täglichen Abläufen zu geben – tagebuch-ähnlich. Diese haben wir bereits in die Job-Anzeigen integriert und die Bewerberinnen und Bewerber bekommen so einen unverfälschten ersten Eindruck von der Arbeit im Team. Wichtig ist hier, dass es nicht nach Marketing Bla-Bla klingt (und auch nicht ist) sondern sehr prägnant die Besonderheiten und Alltäglichkeiten schildert.
Fazit
Nicht jeder Persönlichkeitstyp ist für die Arbeit in einem Remote-Team geeignet. Einige Skills und Fähigkeiten lassen sich erlernen, andere eher nicht.
Wichtig ist aus meiner Sicht, dass man von beiden Seiten ehrlich mit den Erwartungen umgeht. Es stellt sich z.B. auch die Frage, ob man tatsächlich von jedem Persönlichkeitstyp erwarten kann, an einem Retreat teilzunehmen oder ob dies – ganz im Sinne von “Diversity rules” ein optionales Angebot sein kann.
Welche Punkte habe ich vergessen, wie habt ihr die Arbeit in einem Remote-Team erfahren, was ist wichtig zu können?